Angst
Es ist nicht leicht, sein Verhältnis zu Alkohol zu überdenken, geschweige denn, eine Pause einzulegen oder aufzuhören. Über sein Trinken nachzudenken ist ja in sich bereits ein Eingeständnis, dass es überhaupt etwas zu hinterfragen gibt.
Das ist doch nur was für Alkoholiker. Für die mit den zitternden Händen, Schweissausbrüchen und ruinierten Familien und Karrieren.
Nein. Es hilft jeder und jedem von uns. Denn letztendlich ist Alkohol ein starkes Nervengift, dass uns abhängig macht und unser Hirn verändert. Auch für mässige Trinkerinnen und Trinker lohnt es sich also, sein Verhältnis zum Alkohol zu hinterfragen.
Aber ja, das ist schwierig. Und furchteinflössend. Bei mir war es ein jahrelanger Prozess. Ich weiss noch wie ich irgendwann ein Interview las von irgendeinem Hollywood-Star. Er trinke keinen Alkohol, sagte er in diesem Interview. Alkohol sei für Looser. Fand ich beeindruckend, hat mich nicht mehr losgelassen. Blieb zwar dem Alkohol treu, aber diese Aussage blieb mir.
Ich selber habe mich in meiner Jugend nicht zuletzt darüber definiert, dass ich zu denen gehörte, die Bier tranken (besser: soffen). Und rauchten und kifften. Das war Party, Bars, Abenteuer, Coolness. Die Nicht- oder Wenigtrinker waren Langweiler, sie strickten, spielten Blockflöte und sassen samstagabends zuhause und tranken Lindenblütenaufgüsse mit der Oma. Am Sonntagmorgen standen sie um sechs Uhr auf zum Wandern. Boooooring.
Ein tiefverankertes Prinzip wie „Alkohol = Cool, Party, Leben, Genuss“ macht eine Veränderung schwierig. Entsprechend gross war auch meine Angst. Würde ich von Freunden noch akzeptiert sein? Würde ich noch einen lustigen Abend verbringen können? Würde ich nicht wahnsinnig viel verpassen, wenn ich auf dem Trip mit den Jungs nicht bis um morgens um vier in einer Bar irgendwo in Spanien sitzen würde (ich war seit rund 20 Jahren nicht mehr auf einem solchen Trip). Sehr grotesk: wenn ich in Russland Geschäfte machen würde, müsste ich doch Wodka trinken. Ich habe null Beziehungen zu Russland, weder geschäftlich noch privat und eine Veränderung zeichnet sich nicht ab.
Aber solche Gedanken sind auf einmal da, wenn man diesen Schritt wagt. Das ist völlig normal. Insbesondere die Angst vor der sozialen Ausgrenzung. Denn wir sind Menschen und somit soziale Wesen. Auf die Akzeptanz in der Gemeinschaft angewiesen können wir nicht riskieren, ausgeschlossen zu werden. Und unsere Gesellschaft ist geradezu durchtränkt von Alkohol.
Aber es geht. Man überlebt. Und zwar gut. Die einen reagieren vielleicht ablehnend. Andere finden es merkwürdig, im Sinne von "ok, wenn du das wirklich willst…". Den meisten ist es komplett egal. Den langjährigen, engen Freunden sowieso. Sie akzeptieren und mögen mich, ob ich nun trinke oder nicht. Und die allermeisten Menschen sind dermassen mit sich selber beschäftigt, das sie sich nicht auch noch um die Marotten anderer kümmern können.
Ich trinke nicht mehr und habe noch Freunde. Und zwar immer noch die gleichen. Wir treffen uns, gehen aus, diskutieren und lachen. Kein Unterschied zu früher. Für mich hat sich das Leben nur zum Besseren gewendet, seit ich auf 0.0 umgestiegen bin.