Abstinenz ist Punk

Das ist eine verwegene Aussage. Waren es nicht gerade die Punks, die unendlich Bier soffen und rauchten? Ist Alkoholverzicht also nicht genau das Gegenteil von Punk? Was soll also Abstinenz mit Punk zu tun haben? Punk war eine Gegenbewegung, ein Protest. Und ein alkoholfreies Leben ist das irgendwie auch. Lass mich das kurz erklären.

Als ich jünger war, ein Teenager, war der Alkoholkonsum ein Ausbruch. Er war eine Rebellion gegen die engen bürgerlichen Strukturen in den 80ern und 90ern. Natürlich wussten die Eltern, dass man abends im Ausgang Bier trank. Aber nicht, wie viele es regelmässig waren. Alkohol und Gras war einerseits ein Ausbruch aus der strukturierten Welt der Eltern und gleichzeitig irgendwo Lebensgefühl, eine Identifikation und vielleicht auch ein Ausdruck einer Orientierungslosigkeit in einer hedonistischen, kapitalistischen Gesellschaft. Der kalte Krieg war irgendwann überstanden, das Damoklesschwert der nuklearen Annihilation auf dem Boden der gescheiterten UdSSR zerschmettert. Und alles was blieb, war die Aussicht auf Geldverdienen in einem kapitalistischen System, in dem nur Leistung zu zählen schien, nicht der Mensch. The Winner Takes it all und alle anderen sind Looser. Und vorwärts geblickt aus der Perspektive eines 17 jährigen würde man der Winner sein. Aber bis dahin musste noch die unbeschwerte Jugend ausgenutzt werden, als gäbe es dieses Morgen nicht.

Später war man dann Teil dieses Systems, „work hard, party hard“ und so. Bier wurde zu Gin Tonic und die Preise der Weinflaschen verdoppelten, vervierfachten sich. In meiner Perspektive war es cool mit 17 cool zu denen zu gehören, die Bier tranken und rauchten. Mit 30 gehörte es zum guten Ton mit dazu. Alle tranken. Alle. Was in der Jugend Rebellion war, war mit 30 die Norm.

Und manchmal frage ich mich heute: wie oft traf ich mich mit Leuten, weil es mir um diese Menschen ging. Wie oft war es, weil man wusste, dass man mit denen anständig trinken konnte. An wie manchem Abendessen ging es viel weniger um das Essen, als viel mehr um den Wein.

Alkohol und all die Rituale drum herum sind so tief in der Gesellschaft verankert, dass es subversiv ist, eben nicht zu trinken. Die nüchterne Person zu sein ist suspekt. Das ist doch der wahre Akt der Rebellion. Nicht zu konsumieren, nicht benebelt zu sein, nicht all seine Energie in den Abbau eines starken Nervengifts investieren zu müssen. Nüchterne Personen sind der Gesellschaft suspekt, man mag das nicht. Abstinenz ist der Ausbruch aus einem gesellschaftlichen Konsens. Sie durchbricht die Gepflogenheiten, die Norm und sind wir ehrlich: einen Teil der bürgerlichen Strukturen. Nüchternheit ist eine Auflehnung gegen ein System, in dem Alkohol so tief verankert ist, dass er nicht hinterfragt wird. Und deshalb ist heute das Nichttrinken Rebellion, Punk, Auflehnung.